Jeder hat eine Familie

Ein Beitrag im Tätowier Magazin

Tomasi (14 von 14)



Tätowierer Tomasi wurde von der samoanischen Tätowiererfamilie Suluape als einer der ihren aufgenommen und adoptiert. In Freiburg gibt er die Muster, aber vor allem den Geist der samoanischen Tätowierkunst an deutsche Kunden weiter.

Gibt es so etwas wie Vorsehung, schicksalhafte Begegnungen? Die Geschichte von Tomasi Suluape, der heute in einem Atelier in Freiburg samoanische Tätowierungen anfertigt, lässt sich kaum anders erklären, denn nur bloßer Zufall kann es eigentlich nicht gewesen sein, der das Leben des jungen Mannes vor knapp zwei Jahrzehnten in völlig ungeahnte Bahnen lenkte. Eine Begegnung von gerade mal fünf Minuten in einer Hafenkneipe in Barcelona reichte aus, um eine Entwicklung anzustoßen, die Tomasi zu dieser Zeit nicht mal ansatzweise erahnen konnte.

Es ist ein eiskalter, nasser Herbsttag, an dem ich in Freiburg nach Tomasis Atelier forsche. Das Navigationsgerät hat mich in eine sehr hübsche Ecke der süddeutschen Studentenstadt geführt: Hier gibt es winzige Kunstgeschäfte, Cafés und Galerien, ein kleiner Bach plätschert an den pittoresken alten Häusern vorbei. Von Tomasis Studio sehe ich aber nichts.

»Die Stahltreppe hoch – das findet nie jemand ...«,



erklärt mir der Inhaber des Cafés direkt unterhalb des Tattooateliers, der diese Auskunft offenbar nicht zum ersten Mal gibt.

Tatsächlich, hinter der Glastür im ersten Stock sieht man schon Tiki-Statuen, ein mit Strohmatten ausgelegtes Podest, auf dem offenbar tätowiert wird, und Tomasi empfängt mich mit einer heißen Tasse Kaffee. Ich halte meine blaugefrorene Nase in den Kaffeedampf und beginne aufzutauen, während Tomasi mit der fantastischen Geschichte beginnt, die ihn in die Südsee geführt hat.

»Es ging mir nicht gut, gar nicht gut. Ich reiste durch Kolumbien, Venezuela, aber es war mehr eine Flucht, keine Reise zum Spaß. Ich hatte traumatische Erlebnisse hinter mir und habe Dinge getan ... Ich hab sie damals nicht als schlecht oder negativ angesehen, denn ich habe diese Sachen gemacht, weil ich sie tun musste, um bis zum nächsten Tag zu überleben.«

Tomasi deutet an, dass es Probleme, große Probleme mit seiner Familie gegeben hatte. An der Art, wie er davon erzählt, merke ich, wie verfahren und aussichtslos sein Leben damals gewesen sein muss. Eines Tages saß er schließlich in einer Bar im Hafen Barcelonas, als da dieser Mann war, von dem eine ganz eigene Energie ausging.

Was folgte, war keine stundenlange, tiefgreifende Begegnung, sondern ein kurzer Austausch von nur wenigen Minuten. »Er fragte mich, wie es mir gehe, und ich sagte: ›Nicht so gut.‹

Mein Leben war zu dieser Zeit völlig upside down. Er sagte, er hätte etwas für mich, wenn ich ihn mal in Neuseeland besuchen würde. Das war alles.« Der Name dieses Mannes war Paulo Suluape. Der Name blieb in Tomasis Gedächtnis haften, doch es dauerte zwei Jahre, bis ihm schließlich klar wurde, dass er der Einladung des Fremden aus der Hafenkneipe Folge leisten musste.

Er setzte sich ins Flugzeug nach Neuseeland. »Ich wusste nur, dass er in Auckland wohnt und dass er irgendwas mit Tattoos machte. Ein Thema, mit dem ich vor her nie irgendwas zu tun hatte. Also ging ich von einem Studio zum anderen und fragte nach Paulo Suluape.« Die Reaktion war überall dieselbe: Totenstille, Schweigen. Niemand sprach mit Tomasi.

Erst nach einiger Zeit fand er heraus: Paulo lebte nicht mehr, er war kurz vor Tomasis Ankunft verstorben. Und schließlich wurde er an Rob Krause verwiesen, ein Freund Paulos, der ihm auch die Lehrlinge und schließlich die Familie vorstellte – dass Paulo ein berühmter Tätowiermeister war, erfuhr Tomasi erst jetzt. Aber was war es, was Paulo dem jungen Mann aus Deutschland hatte geben wollen? Würde er es vielleicht nie erfahren?

Doch Tomasi war näher an der Antwort, als er ahnen konnte. »Ich ließ mir dort dann ein Pe’a machen, das traditionelle Tattoo der Männer auf Samoa. Zwei Wochen bin ich dafür durch die Hölle gegangen, aber ich hatte keine Ahnung, was danach auf mich zukommen würde.« Tomasi reiste zurück nach Deutschland. »Und dann änderte sich mein Leben. Schlagartig. Es war,

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»Es war, als seien mir mit diesem Tattoo genau die Informationen übertragen worden, die ich brauchte.«



als seien mir mit diesem Tattoo genau die Informationen übertragen worden, die ich brauchte, an genau diesem Zeitpunkt meines Lebens.

Das war es, das war das, was Paulo mir geben wollte.« Rastlos begann Tomasi zu zeichnen, etwas, was er seit dem Bruch mit seiner Familie nicht mehr getan hatte. Die Muster, aber auch die Verbindung zur Familie Paulos beflügelten ihn regelrecht und er begann, in einem Studio in Deutschland diese polynesischen Motive zu tätowieren.

Als Tomasi einige Zeit später Aleiva’a, Paulos Bruder, auf Samoa besuchte, erklärte ihm dieser, dass die einzige legale Möglichkeit für Tomasi, diese Tattoos anzufertigen, darin bestand, Teil der Familie zu werden. Sie würden ihn also adoptieren. Er sagte: »Meine Schwestern mögen dich, meine Kinder mögen dich, die Hunde und Katzen mögen dich – deshalb adoptieren wir dich!« Was das für jemanden bedeutet, der hier in Deutschland mit seiner Familie gebrochen hatte, kann man sich wohl kaum vorstellen.

»Dieses Familiengefühl, das hatte ich nie. Aber welche Bedeutung Familie dort hat – das hab ich auch zum damaligen Zeitpunkt nicht einmal ansatzweise verstanden.« Das Erlernen des Tätowierens war, wie ich aus Tomasis Erzählungen entnehme, dann auch bei Weitem nicht das Wichtigste in seiner »Lehre«: »Es ging darum, wie man sich in der Gemeinschaft verhält, der Familie gegenüber. Ich musste lernen, wie man mit den Brüdern spricht, wann man den Vater anspricht ...« Komplettes Neuland für den jungen Mann aus Deutschland, aber unverzichtbar, um die samoanische Tätowiertradition zu verstehen, bei der es zwar auch um das Individuum geht, aber sehr viel um dessen Beziehung zu seiner Familie.

Mir scheint, als ob die wohl geordneten Muster und Strukturen der Pe’a und Malu genannten Tattoos auch Ordnung und Struktur in Familienbeziehungen bringen. Tomasi bestätigt: »Dein Verhalten gegenüber der Gemeinschaft, der Natur, der Familie – alles spiegelt sich im samoanischen Tattoo.« Aber es geht noch darüber hinaus: »Also, ich will das nicht zu spirituell machen, aber es ist ja klar: Wenn man sein ganzes Leben lang etwas mit einer bestimmten Intention ausführt, dann übt man damit auch eine Energie auf den Körper aus, den man tätowiert. Und wenn eine Familie das über dreitausend Jahre macht, über 180 Generationen vom Vater an den Sohn weiterreicht, da entsteht natürlich eine Essenz, eine gewaltige Energie.« Eine enorme Bedeutungstiefe – aber können Westler, können Kunden in Deutschland die Tragweite solcher Tattoos überhaupt erfassen?

»Das Erstaunliche war: Als ich nach Deutschland kam, konnte ich genau an dem Punkt ansetzen. Es lief genauso wie in Samoa, auch hier habe ich diese enge Bindung zu meinen Kunden, genau wie dort.

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»Meine Schwestern mögen dich, meine Kinder mögen dich, die Hunde und Katzen mögen dich – deshalb adoptieren wir dich!«



Auch hier geht es bei meinen Kunden um die Familie. Da kommt der Sohn zu mir, der Probleme mit dem Vater hat, dann kommt der Vater und lässt sich auch tätowieren, plötzlich kommt die Mutter, die Geschwister ...« Hört sich fantastisch an – Tätowierungen als eine Art Familientherapie, als eine Möglichkeit, wieder in Verbindung zu kommen oder neue Verbindungen zu schaffen?

»Die Bedeutung der Muster, die ich in das Tattoo hineinlege, haben natürlich auch die Funktion einer Selbstreflektion. Das teile ich dem Kunden auch mit – ob er das für sich selbst behält oder weitererzählt, das muss er aber selbst entscheiden.« »Dann ist der Kunde, der nur ein hübsches Muster auf dem Oberarm möchte, bei dir sicher falsch?«, frage ich Tomasi. »Nein, gar nicht. Irgendwie muss der Kontakt, das Interesse ja zustande kommen.

Aber wenn ich das Gefühl habe, dass jemand das noch nicht annehmen kann, dann sag ich ihm auch ›Ich freu mich, dass du gekommen bist, aber geh besser noch mal in dich und melde dich in zwei, drei Monaten noch mal.‹ Nicht, weil ich es ihm nicht gönne, sondern weil ich will, dass er an einen Punkt kommt, wo er auch versteht, was ich ihm gebe.« Irgendwann während unseres Interviews fällt mir auf, dass wir sehr viel über Familie sprechen, über Gemeinschaft, Tradition, Energie – aber über das,

»Jeder hat eine Familie, auf der ganzen Welt – deshalb darf ich das auch anderen geben, die eine Familie haben.«
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worüber ich mit anderen Tätowierern meist spreche, nämlich über konkrete Designs, über Technik, Maschinen, über das Tattoo selbst, darüber sprechen wir kaum. Mir kommt es im Laufe des Gesprächs immer mehr so vor, als sei das, was wir als samoanische Tätowierung bezeichnen, lediglich die Spitze des Eisbergs, nur der sichtbare Teil von etwas viel Größerem. »Das kann man ganz genau so umreißen«, bestätigt Tomasi meinen Eindruck.

»Es kommt in Samoa auch nicht so darauf an, ob bei einem Tattoo jede Linie total sauber ist – es kommt darauf an, dass es da ist.« Aber Stichwort Tradition – hat denn auf Samoa niemand ein Problem damit, dass Westler die Zeichen ihrer alten Kultur tragen? »Paulo war da in gewisser Weise ein Revoluzzer, dass er auch Weiße auf samoanische Art tätowiert hat. Aber seine Begründung war:

Wir tun das für die Familie. Und jeder hat eine Familie, auf der ganzen Welt – deshalb darf ich das auch anderen geben, die eine Familie haben. Das stimmt natürlich und das haben nach seinem Tod auch seine Brüder akzeptiert.« Inzwischen tätowiert Tomasi nicht nur, er entwirft auch samoanische Designs für Harleys oder auch für große Luxusjachten, auch eine limitierte Edition von Lederjacken, die stark von der samoanischen Tätowiertradition geprägt ist, ist jüngst unter seinem Label Sulumasi entstanden.

Einen anderen Tätowierer hätte ich vielleicht gefragt, ob er denn überhaupt noch tätowieren muss, wenn sich so viele andere lukrative Tätigkeiten auftun. »Es ist doch ganz egal, worauf ich die Muster aufbringe«, antwortet Tomasi auf meine nicht gestellte Frage, »es ist doch alles eins!«